2021 – 2023 | LandesJugendChor Rheinland-Pfalz

Ein persönlicher Rückblick auf die Arbeit der letzten beiden Jahre von Björn Rodday

Nachdem nunmehr fast zwei Jahre vergangen sind, seitdem ich meine Tätigkeit beim LJC aufgenommen habe, lohnt sich in meinen Augen eine kleine Rückschau. Dabei sind mir vor allem auch Bereiche wichtig, die nicht unbedingt im „Rampenlicht“ der Öffentlichkeitsarbeit stehen, und die eher auf eine nachhaltige Wirkung angelegt sind. Bewusst möchte ich hierbei auch nicht auf die einzelnen Arbeitsphasen und Konzerte eingehen – so gern ich auch in diesen Erinnerungen verweilen würde – sondern das Augenmerk auf die pädagogische Basisarbeit legen. Vieles von dem, was ich im Folgenden aufzähle, war natürlich auch ein Anliegen meiner Vorgänger, denen ich an dieser Stelle meinen großen Dank aussprechen möchte!

Der LJC als Förderinstitution
Das Aufgabenspektrum der Landesjugendensembles, die sich in Rheinland-Pfalz unter der Trägerschaft des Landesmusikrats befinden, ist gerade auch im Nachhall der Pandemie wichtiger denn je. Vielen Kindern und Jugendlichen haben die letzten Jahre enorm zugesetzt, sowohl bildungstechnisch als auch psychisch, und wir erleben in der musikalischen Arbeit tagtäglich, wie schwierig es ist, junge Menschen für die Chorarbeit dauerhaft zu gewinnen. Beim LJC hatte ich mir deshalb gleich zu Beginn vorgenommen, die Förderung der jungen Menschen in den Fokus zu nehmen und über mehrere Säulen zu definieren:

  1. Musikalische Förderung

Bereits nach den ersten Erfahrungen auf den Arbeitsphasen und Vorsingen wurde mir klar, dass bei vielen Schüler:innen, und auch Studierenden, bereits elementare musikalische Grundkenntnisse fehlen, sowohl im Praktischen wie in der Theorie. Selbst das bloße Notenlesen stellt viele Schüler:innen vor große Probleme.

Deswegen haben wir in den vergangenen beiden Jahren den Stab unserer Dozent:innen deutlich erweitert. Mittlerweile erhalten die LJCler:innen neben dem klassischen Gesangsunterricht auch Einheiten in Musiktheorie, Gehörbildung, „vom-Blatt-Singen“, sowie Atem-, Sprech- und allgemeines Stimmtraining. In Zukunft soll dieses Angebot erweitert, und u.a. Harmonielehre und regelmäßige Werkeinführungen mit aufgenommen werden. Ziel ist es, all diese Fächer und Themen künftig in ein festes Curriculum zu bündeln, welches jede:r neue Sänger:in in Modulen durchläuft.

Parallel dazu haben wir Konzepte entwickelt, Schüler:innen bereits vor Ort an der Schule ein Angebot zu unterbreiten, z.B. über Workshops und Gesangsunterricht. Dieses Konzept wurde Anfang 2023 modellhaft in Prüm gestartet.

Eine weitere Neuerung ist das Senken des Eintrittsalters. Während beim LandesJugendOrchester seit jeher auch jüngere Schüler:innen aktiv sind, betrug das Mindestalter beim LandesJugendChor bisher 16 Jahre. Diese Schwelle wurde mittlerweile auf 13 Jahre gesenkt – wobei man dies interindividuell nicht als in Stein gemeißelt betrachten sollte. Aktuell haben wir auch eine Knabenstimme im Alt.

Ein Alleinstellungsmerkmal des rheinland-pfälzischen LJCs stellt die von Arbeitsphase zu Arbeitsphase wechselnde Musikalische Leitung dar. Ein Vorteil der projektweisen Musikalischen Leitung stellt das Kennenlernen unterschiedlicher künstlerischer Herangehensweisen, kultureller Backgrounds, Interpretationen und vor allem auch das Singen unter höchst individuellen Dirigaten dar. Der Chor lernt, flexibel und achtsam auf ein neues Gegenüber zu reagieren. Ein pädagogischer Ansatz und eine Herausforderung, der sich die Chorist:innen in ihrer weiteren Laufbahn noch viele Male stellen müssen.

  1. Pädagogische und psychologische Begleitung

Die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen stellt ein Landesjugendensemble auch fernab der Musik vor große inhaltliche Herausforderungen. Es wird bedauerlicherweise viel zu wenig darüber offen gesprochen – doch viele junge Menschen tragen schwere psychische Rucksäcke auf ihrem Rücken, über die im Alltag gerne auch mal hinweggesehen wird. Die Musik und die Gemeinschaft im Rahmen einer konzentrierten Arbeitsphase, bei der man über 1-2 Wochen eng zusammenlebt, wirkt jedoch mitunter als eine Art Katalysator, der Schutzmauern bröckeln lässt und durchaus auch zu akuten persönlichen Krisen führen kann.

Hier ist es ungemein wichtig, dass das Team aus Dozent:innen und Betreuer:innen professionell und breit aufgestellt ist, und ich bin mehr als dankbar, dass der LJC seit letztem Jahr Fr. Petra Pusinelli gewinnen konnte, die als Psychologin, Musikerin und Coach viele Kompetenzen in sich vereint. Meine eigene Vergangenheit als Stationsarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist bei diesem Aspekt meiner Arbeit ebenfalls von großem Vorteil – auch im Hinblick auf Medikamente, die von Teilnehmer:innen dauerhaft eingenommen werden.

  1. Öffnung des LJC-Angebots / Diversität

Bedauerlicherweise sind Landesjugendensembles häufig fast reine Gymnasialgruppierungen. Schüler:innen einer Realschule plus oder gar Berufsschüler:innen trifft man dort eher selten. Bezogen auf die Vokalmusik ist es seit Anbeginn ein Ansinnen meinerseits, dies aktiv aufzubrechen. Leider ist jedoch auch in unserem Land die Teilnahme an „klassischen“ Kulturangeboten immer noch viel zu sehr an die Zugehörigkeit zu einem – plakativ tituliert – „Bildungsbürgertum“ gekoppelt. Sprich, die soziale Herkunft hat einen immensen Einfluss darauf, welchen Zugang ein Kind zu kulturellen Angeboten erhält, ob es ein (bestimmtes) Instrument erlernen kann und darf, im Chor singt, Konzerte besucht und vieles mehr.

Die künstlerischen Begabungen der Kinder kennen diese Sozialdeterminanten jedoch nicht. Selbstverständlich haben wir in jedem gesellschaftlichen Umfeld junge Menschen, die außerordentlich gut singen können, oder, bei entsprechender Förderung, zu ausgezeichneten Instrumentalist:innen ausgebildet werden könnten.
Natürlich ist mir bewusst, dass es sich hierbei um äußerst große Stellschrauben handelt, die man über viele Jahre hinweg langsam bewegen muss, um eine Änderung zu erreichen. Dennoch haben wir beim LJC bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen. So können sich mittlerweile alle Jugendlichen auch initiativ beim LJC bewerben, völlig unabhängig davon, ob sie eine „Empfehlung“ vorweisen können oder nicht. Bei den letzten Ausschreibungen waren zudem alle Schulformen, auch die Berufsschulen, mit im Verteiler.

Seit Ende letzten Jahres haben wir die klassischen „Frontal-Vorsingen“ durch die Teilnahme an Probe-Arbeitsphasen ersetzt und bereits interdisziplinäre Workshop-Konzepte erstellt, bei denen die aktive Bewerbung durch ein Scouting unsererseits flankiert werden soll.

Im Hinblick auf die Ensemblearbeit gewinnen zudem auch Gender-Fragen immer mehr an Bedeutung. Hier sind wir beim LJC ebenfalls bemüht, auf neue Fragestellungen offen und wertschätzend einzugehen.
Bei vielen Aspekten muss ich mich als Leiter auch selbst immer kritisch hinterfragen: Wie bin ich sozialisiert? Welche verborgenen Vorurteile habe ich? Was habe ich noch nie hinterfragt? Als kleines Beispiel – die Frage der Konzertkleidung: Ich selbst singe seit 35 Jahren sehr intensiv und ununterbrochen in verschiedensten Vokalensembles. Doch wie selbstverständlich war dabei immer nur von Frauen-, Knaben- und Männerstimmen die Rede, so auch bei der Konzertkleidung. Beim LJC hatte ich dies in den ersten Arbeitsphasen ebenfalls so weitergeführt. Erst als ich vergangenes Jahr beim Kammerchor-Wettbewerb in Marktoberdorf gelebte Konzertkleidungsvielfalt auf der Bühne erleben durfte, brachte dies bei mir einen Umdenkungsprozess in Gang. Seitdem ist beim LJC nur noch von 2 Konzertkleidungs-Varianten die Rede. Die Wahl der Variante, z.B. bodenlanges Kleid vs. Anzug, ist frei wählbar und stimmgruppenunabhängig. Das LandesJugendOrchester hat diese Neudefinition sogleich übernommen.

Eine ähnliche Herausforderung stellt sich mitunter bei der Zimmeraufteilung und dem Thema Transgender. Doch auch hier sind die Probleme auf dem Papier größer als in der Realität.

4. Multiprofessionelles Team

Wie in den oberen Abschnitten bereits erwähnt, lege ich in meiner Tätigkeit einen großen Fokus auf das Dozent:innen- und Betreuer:innen-Team. Für mich stellt es den Kern der Förderarbeit dar! Selbstverständlich ist es ebenfalls erfüllend, mit phantastischen Solist:innen und Orchestern auf der Bühne zu stehen, doch das, was Nachwuchsarbeit meines Erachtens wirklich ausmacht, ist die direkte und konkrete Arbeit mit den Sänger:innen und dem Ensemble.

Ein entscheidender Aspekt der ganzheitlichen Förderung der Chormitglieder stellt die abendliche Teamrunde aller Dozent:innen dar. Hier werden sämtliche Sänger:innen, die an dem Tag irgendeine Workshop-Einheit hatten (oder anderweitig im Fokus standen), im Team einzeln besprochen. Jede:r Dozent:in bringt dabei eine eigene professionelle Perspektive und Erfahrung mit ein. Diese Form der Teambesprechung hatte ich bereits bei meiner allerersten Arbeitsphase etabliert und schrittweise ausgebaut. Mittlerweile nimmt dieses Teamgespräch zeitlich fast 2 Stunden am Abend ein und ist aus der alltäglichen Arbeit nicht mehr wegzudenken.

  1. Die Teamebene der Landesjugendensemble-Leiter:innen

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich betonen, wie bereichernd, freundschaftlich und wertschätzend die Zusammenarbeit mit meinen Kolleg:innen war und ist. In den letzten beiden Jahren haben wir uns stets unterstützt und einen sehr engen Austausch gepflegt. War Not am Mann, konnten wir uns immer aufeinander verlassen und waren 24/7 füreinander erreichbar, was in manch einer Akutsituation auf Arbeitsphasen sehr viel Wert ist.

Dieser Kollegialität braucht es, um gemeinsam an Konzepten und Kooperationen zu arbeiten, um alle Landesjugendensembles auf einen guten Weg zu bringen. Dabei ist gerade die Interdisziplinarität und das gegenseitige „über den Tellerrand“-Blicken ein wesentlicher Teil des Erfolgs!

Die beschriebenen Säulen befinden sich noch im Aufbau. Sie lassen jedoch bereits erahnen, wie in meinen Augen die „Förderarchitektur LandesJugendChor“ aussehen könnte. Dazu benötigt es zwar gewiss viele weitere kleine und große Schritte, doch die Blaupause steht.

Zum Schluss das Wichtigste  – der Chor!
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen aktiven und ehemaligen LJCler:innen bedanken, die mich in den letzten beiden Jahren begleitet haben! Der LandesJugendChor besteht aus vielen besonderen Menschen, die jede:r für sich einzeln hervorgehoben werden sollte, doch dafür reicht an dieser Stelle der Platz leider nicht 😉
Die gesamte oben beschriebene Konzeption würde ohne diese Chorgemeinschaft nicht funktionieren. Ein Ensemblegeist, der über viele Jahre gewachsen ist, und der gerade auch von dem Zusammenwirken mehrerer „Generationen“ profitiert. Chormusik hat immer auch etwas Familiäres, und ich freue jetzt bereits sehr auf das Wiedersehen mit dieser musikalischen Familie am kommenden Wochenende in Kaub!

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